Ein Leben ohne Krankenversicherung
In Deutschland besteht die gesetzliche Krankenversicherungspflicht für jeden Bürger. Aber trotzdem leben Hunderttausende ohne Versicherungsschutz. Die aktuelle Flüchtlingskrise wird dieses Problem weiter verschärfen.
Angst vor Ärzten
Markus F. lebte jahrelang in der Angst vor Ärzten. Er ließ sich selbst dann nicht behandeln, als er bei einem Kieferbruch vier Zähne verlor. Um die Lücken in seinem Gebiss zu verbergen, lächelte er kaum noch. Aber nicht die Angst vor den Schmerzen, die während einer Behandlung auftreten könnten hielten ihn von den Ärzten fern, sondern die Kosten. Markus F. war nicht krankenversichert.
Beispiel aus der Realität
Die Probleme von Markus F. begannen, als er sich vor sechs Jahren selbstständig machte und als gelernter Koch ein Restaurant übernahm. Seine finanziellen Rücklagen waren schnell durch die Pacht und eine neue Einrichtung für das Lokal aufgebraucht. Dann wechselte er von der gesetzlichen zur privaten Krankenversicherung. Sein Geschäft lief jedoch nicht wie geplant und das Geld reichte nicht um alle Rechnungen begleichen zu können. Markus F. musste also eine Entscheidung treffen – er beschloss Löhne und die Stromrechnung zu bezahlen, die Krankenkassenbeiträge blieben offen. Er hoffte allerdings auf einen höheren Umsatz, um auflaufende Rückstände wieder abgelten zu können. Leider ging dieser Plan nicht auf. Nach knapp zwei Jahren musste er sein Lokal schließen. So stand er mit einem Berg von Schulden da, aber weiterhin ohne Krankenversicherung.
Teufelskreis bei unbezahlten Beiträgen
Wenn der Versicherte mehr als zwei Monate mit seinen Beitragsraten in Rückstand gerät, leistet die Versicherung nicht mehr, egal ob gesetzlich oder privat versichert. Erst müssen Rückstände incl. Strafzinsen ausgeglichen werden, ehe erneut Aufwendungen für ärztliche Leistungen und Medikamente in Anspruch genommen werden können. Auf dem Papier bleibt die Mitgliedschaft mit seiner Krankenkasse aber weiterhin erhalten.
Somit wird eine Rückkehr in die Krankenkasse, bei der die Beiträge noch rückständig sind, von Monat zu Monat teurer. Rechnerisches Beispiel: wurde Anfang 2010 letztmalig bezahlt, so steht ein Jahr später bereits eine Nachzahlung von € 3.500 an. Mit Zinsen und Gebühren hätten sich bis zum jetzigen Zeitpunkt die Schulden auf knapp € 30.000 addiert. Dieser Berg müsste erst einmal abgetragen werden bis neuer Versicherungsschutz besteht.
Notlagentarif der privaten Krankenkassen
Zum 01.08.13 hat die Politik reagiert und einen sog. Notlagentarif eingeführt. Dieser ist für Personen angedacht, die jahrelang ihre Beiträge nicht entrichten konnten. Die Kosten liegen bei monatlich rund € 100 und sind somit deutlich geringer als bei privaten Basistarifen. Der Pferdefuß dabei ist allerdings, dass nur bestimmte Behandlungen abgedeckt sind, beispielsweise akute Schmerzen. Ende 2014 waren ca. 115.000 Personen in diesen Tarifen versichert. Dies bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von gut 20 Prozent. Die Statistik zeigt uns, dass auch bei den gesetzlichen Krankenversicherungen die ausstehenden Beiträge rasant ansteigen. So haben sich die Außenstände vom Jahr 2011 bis 2014 nahezu verdreifacht – von € 1,07 auf € 3,24 Milliarden.
In einigen Regionen gibt es ehrenamtliche Hilfe
In einigen Regionen hat sich ein medizinisches Auffangnetz für Personen entwickelt, die aufgrund finanzieller Probleme aus dem klassischen Gesundheitssystem fallen. Beispielsweise kümmert sich die Malteser Migranten Medizin in 14 deutschen Städten um Ausländer ohne Versicherung und Aufenthaltsgenehmigung. In Schleswig-Holstein bestehen neun Praxen ohne Grenzen, die ehrenamtlich geleitet und durch Spenden finanziert werden.
Die Scham ist oft groß
In einer dieser Praxen ist Markus F. mittlerweile Patient. Vorher hatte der mittlerweile Arbeitslose seine Krankheiten „ausgesessen“ und bei besonders schlimmen Schmerzen eine Packung Ibuprofen gekauft. „Die € 8,49 konnte ich mir noch leisten“, sagt er. Behandelnde Ärzte kennen diese Problematik. Häufig werden notwendige Arztbesuche aus Angst und Scham lange aufgeschoben.
Anzahl der Nichtversicherten ist nicht bekannt
Da es keine Statistiken der Krankenkassen und der Bundesregierung gibt, ist nicht bekannt, wie groß die Anzahl der unversicherten Menschen in Deutschland ist. Die letzte offizielle Zahl über 137.000 datiert aus dem Jahr 2011 und stammt vom Statistischen Bundesamt. Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasern von der Universität Duisburg-Essen, hält diese Zahl allerdings für unrealistisch: „Die Dunkelziffer liegt wohl beim Doppelten bis Dreifachen, hinzu kommen die illegalen, die in der Statistik nicht erfasst werden.“ Bereits 2005 hatte er das Problem der Unversicherten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Sein damaliges Fazit lautete: eine verpflichtende Krankenversicherung könne dieses Problem lösen. Tatsächlich wurde diese Versicherungspflicht auch zwei Jahre später eingeführt. „Wir sind heute einen guten Schritt weiter“, meint Wasern. Es gibt jedoch auch gegenwärtig eine große Anzahl von Unversicherten. Für den Gesundheitsökonom liegt das vor allem an fehlender Kontrolle: „Was nützt eine Pflicht, die niemand überprüft?“
Keine Kontrolle beim Versicherungswechsel
Markus F. hatte seinen bestehenden Vertrag bei der alten gesetzlichen Kasse gekündigt. Aber hat er die Beiträge bei der neuen privaten Krankenversicherung auch bezahlt? „Hat nie jemanden interessiert“, sagt er. Jürgen Wasern schlägt deshalb vor, beispielsweise den Zoll, zum Versicherungscheck aller Bürger einzusetzen. „Das ist überfällig.“
Flüchtlingskrise verschärft die Lage
Auch Krankenhäuser haben Probleme mit der jetzigen Situation. Sie dürfen allerdings grundsätzlich unversicherte Personen ablehnen oder einen Vorschuss in bar verlangen. In Notlagen, wie schweren Unfällen oder einem Herzinfarkt, sind sie jedoch zur Behandlung verpflichtet. Prinzipiell werden hier die entstehenden Kosten vom Sozialamt getragen. Die Kliniken müssen aber dafür die soziale Bedürftigkeit des Patienten nachweisen. Daran scheitert es in der Praxis indessen häufig. Laut der deutschen Krankenhausgesellschaft liegt dies meist an fehlender Kooperation der Patienten, die sich illegal im Land aufhalten und von den Behörden auch weiterhin unerkannt bleiben wollen. Seit der aktuellen Flüchtlingskrise hat sich die Zahl dieser Fälle stark erhöht. Nach Aussage der Krankenhausgesellschaft sind aus diesem Grund bereits Millionendefizite entstanden. Daher wird die Forderung laut, die bestehende Nachweispflicht bei Kostenübernahme des Sozialamts zu lockern.
Ist der Schuldenerlass eine Lösung?
Damit würden auch andere Arztbesuche erleichtert, denn die Mediziner müssten sich keine Gedanken mehr um nicht bezahlte Behandlungskosten machen. Gesundheitsökonom Wasern hebt warnend den Zeigefinger, vor einem zu großen Aufweichen der Versicherungspflicht durch großzügige Kostenübernahme des Sozialamtes nach dem Motto: Warum soll ich zahlen, wenn der Staat sowieso einspringt? Allerdings plädiert er bei bereits angefallenen Rückständen zu einem einmaligen Schuldenerlass. Danach können Betroffene ihre Beiträge wieder zukünftig selbst bezahlen oder das Amt muss unterstützend eingreifen.
Überraschende Aufteilung der Patienten
In die Praxis von Christoph Zensus in Solingen kommen Menschen, die durch das Raster des deutschen Gesundheitssystems fallen, da sie keine Krankenversicherung haben. Der Internist hat seine Praxis ohne Grenzen im Sommer 2014 eröffnet. Zuvor war er sieben Jahre lang mit einem Medimobil unterwegs, um Obdachlosen zu helfen. Im Laufe der Zeit wurde ihm klar, dass nicht nur den Wohnungslosen das Geld für einen Arzt fehlt: „In meinem Wartezimmer sitzen überwiegend 450-Euro-Jobber und Selbstständige.“
So selbstlos die ehrenamtliche Arbeit von Christoph Zensus auch ist – sie sollte überflüssig sein.
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